[Spurensuche
jüdischer Geschichte
– das Ghetto in Wilna]
Krieg
KARTE: REGION POLEN LITAUEN
Deutscher Überfall auf Polen
Am 1. September 1939 überfiel die deutsche Wehrmacht Polen.
Dort lebten zu diesem Zeitpunkt mehr als drei Millionen Juden und Jüdinnen.
Vielen war klar, dass mit den deutschen Truppen ein extremer Antisemitismus
in das Land einfiel. Viele Menschen packten die Bündel mit ihren
Habseligkeiten und flohen vor den einmarschierenden Deutschen und den Bomben
Richtung Osten.
Die Aufteilung des osteuropäischen Raumes
Im Zuge des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes hatten
Deutschland und Russland ihre Einflussgebiete in Osteuropa untereinander
aufgeteilt. Ende September 1939 zog die Rote Armee in Litauen ein. Wilna,
das bisher unter polnischer Regierung gestanden hatte, wurde im Oktober
einer sowjetisch-litauischen Verwaltung zugeschlagen. Ein Großteil der
jüdischen Bevölkerung hatte den Einmarsch der Roten Armee begrüßt, versprach
man sich doch Schutz vor den Nationalsozialisten. Jedoch: Viele jüdische
Institutionen, wie Bibliotheken, Schulen und Theater, wurden geschlossen. Es
blieb z.B. eines von fünf Theatern bestehen und eine jiddische Tageszeitung,
der "Wilner Emes". Das Hebräische und die Bibellehre wurden verboten.
KARTE: BESATZUNG
Flüchtlinge
Auf die Nachricht hin, dass Wilna sowjetisches
Einflussgebiet geworden war, entschieden sich Tausende von Juden aus der
deutsch besetzten Zone aufzubrechen. Mitglieder der jüdischen
Jugendbewegungen und religiöser Gruppen,
Jeshiva-Schüler, Halutzim
und ganze Familien zogen nach Wilna. Viele hofften, von dort weiter nach
Palästina oder ein anderes sicheres Land weiter reisen zu können. Als die
Grenzen an der sowjetischen Westgrenze geschlossen wurden, reagierten vor
allem die Jugendbewegungen sofort: Grenzübertritte wurden illegal
organisiert.
Spurensuche: An der Zawalne Straße,
heute Pylimo, waren vor dem Einmarsch der deutschen viele jüdische
Hilfskomitees ansässig. Foto 2002
Ein zentrales Flüchtlingskomitee unter der Leitung von Jacob
Wygodski
versuchte die schwierige Lage zu organisieren,
später auch mit Unterstützung des JOINT.
Ziel war es, so vielen Flüchtlingen wie möglich die Ausreise in die USA,
nach Erez Israel (Palästina)
oder in ein anderes sicheres Land zu ermöglichen. Ein Palästina-Büro
versuchte ab November 1939 vergeblich, in Verhandlungen mit der britischen
Regierung das Kontingent von Einreisezertifikaten nach Palästina zu erhöhen.
Ende Januar 1940 wurden geschätzt, dass sich etwa 14.000 Flüchtlinge in
Wilna aufhielten.
"Unerwünschte Elemente"
Mitte Juni 1941 kam es im gesamten Baltikum, Litauen,
Estland und Lettland zu Massenverhaftungen durch die sowjetischen
Regierungskräfte. Sie basierten auf vorher erstellten Listen von Personen,
die als "unerwünschte Elemente" bezeichnet wurden – so genannte "nationale
Tendenzen", religiöse Überzeugungen oder Kontakte nach Übersee erfüllten den
Tatbestand zur Erfassung, erfasst waren auch Flüchtlinge aus Polen. Die
sowjetischen Machthaber deportierten etwa 5-6.000 Menschen aus Wilna, davon
viele jüdische, in das Landesinnere Russlands. Es ist ein Paradox der
Geschichte, dass ein nicht unbedeutender Teil der jüdischen Deportierten so
der Vernichtung durch die Deutschen entging.
Blick über einen Teil der Altstast von
Vilnius, Foto 2002
Der Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Wilna
"... Das Land wurde von den blitzartig sich entrollenden
Ereignissen völlig überrumpelt. In der Nacht zum Sonntag, den 22. Juni 1941,
überschritt die deutsche Armee ohne vorherige Kriegserklärung die
festgelegte Grenze und drang rasch ins Landesinnere vor. Zugegeben, der Tag
und die Stunde des Angriffs waren sehr glücklich gewählt: Die sowjetischen
Soldaten und Zivilbeschäftigten verbrachten das Wochenende mit sorglosem
Feiern. ... Der Kriegsausbruch traf die meisten Funktionäre vollkommen
überraschend." (Schur, S. 33)
So
beginnen die Aufzeichnungen Grigorij Schurs über die Vernichtung der Wilnaer
Juden in den Jahren 1941 bis 1943. Diese Aufzeichnungen, heimlich in
Verstecken geschrieben, überlebten dank der Hilfe der Litauerin Ona
Schimaite,
die die Blätter später unter Lebensgefahr in Sicherheit schaffte. Grigorij
Schur selbst überlebte nicht. Er wurde in das Konzentrationslager Stutthof
transportiert und ermordet.
Bombardierungen kündigten den Einmarsch der deutschen
Wehrmacht an. In den Straßen herrschte Chaos, die sowjetischen Funktionäre
verließen die Stadt, andere zur Flucht Entschlossene machten sich zu Fuß
oder per Fahrrad auf den Weg gen Osten, wieder andere versuchten einen Platz
in einem Zug zu ergattern. Tausende wollten noch die Grenze zur Sowjetunion
überqueren, doch den wenigsten gelang es. (vgl. Kruk, Rolnikaite, Schur).
Herman
Kruk,
der Bibliothekar und Chronist des Wilnaer Ghettos, dessen Tagebuch in den
ersten Tagen der deutschen Besatzung beginnt, notierte:
"Was tun? Was tun mit mir? Viele Menschen standen auf der
Schwelle ihrer Häuser und beobachteten ziellos. ... Man sah Menschen
fliehen, hierhin, dorthin. Was soll ich machen?" (Herman Kruk, S. 16/17)
Mascha
Rolnikaite
war 13 Jahre alt, als die Deutschen die Stadt überfielen. Auch sie führte
Tagebuch. Nach einem fehlgeschlagenen Fluchtversuch und der vergeblichen
Suche nach ihrem Vater kehrte sie mit ihrer Mutter und ihren zwei kleineren
Geschwistern nach Wilna zurück:
22. Juni 1941: "... Die Straße ist schon angefüllt mit
Kraftwagen der Hitlerleute, ihren Motorrädern, feldgrauen Uniformen, und
überall hört man die kehligen Laute. Wie merkwürdig und unheimlich ist der
Anblick dieser Fremden, die durch unser Wilna stolzieren, als wären sie hier
zu Hause!
Wir hätten nicht umkehren dürfen!
Und Vati ist immer noch nicht da.
Die Hitlerleute haben befohlen, die Gaststätten und Cafés wieder zu öffnen,
aber unbedingt mit der Aufschrift: Für Juden verboten. Die Juden, das
sind wir, und die Okkupanten halten uns für schlechter als alle anderen:
Für Juden Eintritt verboten!
Man müsste hingehen, die Scheibe einschlagen und diesen lächerlichen
Fetzen mit blutiger Hand abreißen!
Man fürchtet sich das Haus zu verlassen. ..."
(Rolnikaite, S. 13)
Deutsche Besatzung
Direkt nach dem Einmarsch wurde das Kriegsrecht wurde
verhängt. Bis Anfang Juli kollaborierte die deutsche Militärverwaltung mit
litauischen rechtsextremen Organisationen, die sich lange vorher auf
Nazideutschland gestützt hatten. Grigorij Schur analysiert: "Die
Gelegenheit, im Feindesland einen Bevölkerungsteil gegen einen anderen
aufzuhetzen, wird seit jeher von gegnerischen Lagern vor Kriegsausbruch
genutzt. Die Entfachung von Antisemitismus spielt dabei oft eine wesentliche
Rolle." (Schur, S. 35) Doch in Wilna kam es in den ersten Wochen nicht zu
Massenmorden und Pogromen. Dieses änderte sich mit dem Einzug der
Einsatzgruppe 9 am 2. Juli 1941 (vgl.
Ponar).
Die deutsche Wehrmacht war mitverantwortlich und direkt beteiligt an den
Vernichtungsaktionen von Juden. Im August 1941 wurde die militärische
Verwaltung einer zivilen übertragen.
Mit ihrer Ankunft begannen die Besatzer die Stadt mit
Plakaten zuzukleistern, die die Beschränkungen und Sonderregeln für die
jüdische Bevölkerung verkündeten: Sie mussten sich kennzeichnen mit dem
Davidstern, sie wurden aus öffentlichen Arbeitverhältnissen entlassen. Es
war für Juden verboten, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen, auch keine
städtischen Einrichtungen wie Kliniken. Es war verboten, Wohnungen zu
wechseln. Auf den Gehwegen bestimmter Straßen durften sie nicht mehr laufen.
Kennzeichnung: Armbinde mit Stern,
Quelle: Rolnikaite (1968), S. 112
Chaika Grossman hielt sich zu dieser Zeit in Wilna auf - sie
ging nach der Gründung der Widerstandsbewegung in das Ghetto in Bialystok
und kämpfte dort. Sie schrieb in ihrem autobiographischen Bericht:
"Juden dürfen sich nur bis sechs Uhr abends auf der Straße
aufhalten; sie dürfen nur von zwölf bis ein Uhr mittags auf dem Markt
einkaufen. Sie müssen – im Gänsemarsch – auf der rechten Straßenseite gehen,
und auch das 'dürfen' sie nur in bestimmten Straßen. ... Jeder Tag brachte
neue Sorgen. Zuerst die Massenfestnahme der Männer. Tag und Nacht wurden
jüdische Männer 'zur Arbeit' weggeführt und kamen nie wieder. Ein paar Juden
arbeiteten in den Heeresbasen rund um die Stadt. Sie hatten Papiere, in
denen die Behörden darum ersucht wurden, den jüdischen Inhaber des Dokuments
zu keiner anderen Arbeit abzuziehen. In weniger als einer Woche hatten wir
aufgehört, Menschen zu sein, und waren zu Waren geworden, jedem Deutschen
verfügbar." (Grossman, S. 33)
DOKUMENT RESTRIKTIONEN
[Vergrößerung]
Menschenjagden und Verschleppungen
Die Monate Juli, August und Anfang September 1941 waren
geprägt von willkürlichen Jagden auf die jüdische Bevölkerung, von
Überfällen auf Wohnungen und Razzien ganzer Straßenzüge, durchgeführt mit
Unterstützung litauischer Kollaborateure. Männer wurden von der Straße weg
und aus ihren Häusern verhaftet, oft mit der Aufforderung, sich für einen
Arbeitseinsatz fertig zu machen. Gruppen von Litauern – Chapones (Jiddisch:
Häscher) genannt – schleppten sie fort.
"Maline" (Versteck), ein Begriff aus der Gangstersprache,
ging in den Alltagssprachgebrauch der jüdischen Bevölkerung ein. Während
sich die Männer in Kammern und auf Dachböden versteckten, übernahmen die
Frauen die Rolle der Wächterinnen vor den Überfällen durch Deutsche und
litauische Gruppen. Frauen konnten sich zu dieser Zeit noch relativ
unbeschadet auf den Straßen bewegen. Sie standen an in den langen Schlangen
bei der Ausgabe der den Juden zugeteilten Brotrationen und tauschten die
Nachrichten aus.
Am 30. August 1941 schrieb Avrom
Sutzkewer
das Gedicht "Ich lieg in einem Sarg". Er hatte Wochen in verschiedenen
Verstecken verbracht und an diesem Tag erfahren, dass viele seiner Freunde
und Freundinnen aus Künstlerkreisen und Literatenzirkeln umgebracht worden
waren.
"Was sollen wir tun? ... Es wurde dunkel. Ich habe
angefangen nach einem Versteck zu suchen. Auf einem Hof in der Nähe befand
sich die Chewra Kaddisha.
In einem Winkel standen an der Wand die Särge für die Leichen. Ich bin
hereingeklettert in einen Sarg, den Deckel geschlossen über meinem Kopf und
lag in der stickigen Luft. Und in diesem Sarg liegend, habe ich in dieser
Nacht mein Gedicht geschrieben." (Sutzkewer, S. 22)
|
Ich lieg' in einem Sarg
wie in hölzernen Kleidern,
ich lieg'.
Es könnte sein, es ist ein Schiffchen
In einer stürmischen Quelle,
es könnte sein, es ist eine Wiege.
Und hier,
wo sich der Leib
von der Zeit geschieden hat,
ruf ich dich, Schwester,
und du hörst mein Rufen
in der Ferne. ...
Quelle:
Sutzkever:
lider fun yam hamones,
S. 18 |
Auch in vielen anderen Ghettos kam es zu Menschenjagden,
Pogromen und Morden: In Brest-Litowsk, südlich von Wilna gelegen, wurde in
den ersten Tagen der deutschen Besatzung fast die gesamte männliche
Bevölkerung ermordet. Männer stellten in den Augen der deutschen Machthaber
ein Widerstandspotential dar, dessen man umgehend Herr werden wollte.
Außerdem ließ sich mit der Verhaftung der Männer die Täuschung
aufrechterhalten, es würden starke arbeitsfähige Personen benötigt. Und
diese Täuschung führte auch zu der Einschätzung der Juden, dass die Männer
zu Arbeitseinsätzen außerhalb der Stadt gebracht worden seien. Kein Mensch
konnte sich vorstellen, dass sie einfach umgebracht wurden.
Der erste Judenrat
Wie der erste Judenrat in Wilna zustande kam, beschreibt
Yitzhak Arad, der als Jugendlicher in einem litauischen Ghetto war, dann
Partisan und heute Historiker in Israel, folgendermaßen: Am 4. Juli 1941
fuhren zwei Deutsche mit einem Auto vor der Synagoge in der Zydowska Gasse
vor. Sie suchten den Rabbiner. Als der
Schammes Chaim-Meir Gordon ihnen mitteilte, dass weder der
Oberrabbiner noch dessen Stellvertreter in der Stadt seien, erklärten sie
kurzerhand Gordon zum Rabbi und befahlen ihm die Bildung eines Judenrats,
der am folgenden Tag zu präsentieren sei. Gordon wandte sich an den
ehemaligen Gemeindesekretär Werblinski. Am gleichen Abend versammelten sich
57 Gemeindemitglieder. Zehn Personen sollten auf Befehl der Deutschen
gewählt werden. Da die Bereitschaft, diese Posten zu übernehmen, äußerst
gering war, wurde beschlossen, dass die Wahl nicht abgelehnt werden dürfe.
(vgl. Arad, S. 58)
Der erste Judenrat setzte sich fast ausschließlich aus
Repräsentanten zusammen, die auch vor dem Überfall der Deutschen in
administrativen Positionen in der Gemeinde tätig gewesen waren. Auf Befehl
der Deutschen war seine offizielle Aufgabe Arbeitskräfte zu stellen.
Außerdem sollte er die Summe von fünf Millionen Rubel an "Kriegssteuer"
einbringen.
Am 15. Juli erging eine neue deutsche Verordnung: In allen
Gemeinden mit mehr als 10.000 Mitgliedern, müsse die Zahl der Mitglieder des
Judenrats auf 24 Personen erhöht werden. In den Parteien und Jugendgruppen
Wilnas begannen Diskussionen um die Rolle des Judenrates und eine eventuelle
Beteiligung. In dem erweiterten Judenrat waren zionistische und bundistische
Parteien vertreten.
Dieser Judenrat wurde vor der Vertreibung in das Ghetto
aufgelöst, die Mitglieder umgebracht.
Der zweite JUDENRAT
(im GHETTO)
Vorbereitungen zur Vertreibung ins Ghetto
"Provisorische Direktiven" der Deutschen leiteten die letzte
Welle der Vernichtung der Juden in Osteuropa ein: In großen und kleinen
Städten sollten Ghettos für die jüdische Bevölkerung errichtet werden. Die
Umsetzung dieser "Maßnahme" war den jeweils Verantwortlichen vor Ort
vorbehalten. In Wilna wurde ein altes jüdisches Viertel für diesen Plan
vorgesehen.
Die große Provokation
Der Platz, auf dem die "große Provokation"
stattfand, Foto 2002
Ein Ereignis ging der Vertreibung in das Ghetto voraus. Am
Sonntag, den 31.August 1941 kam es in Wilna zu einem Zwischenfall, der in
den Sprachgebrauch der jüdischen Bevölkerung als die "große Provokation"
einging: Vor einem mitten in dem Gebiet des geplanten Ghettos gelegenen Kino
wurde auf deutsche Soldaten geschossen. Als Täter wurden im
gegenüberliegenden Haus lebende Juden beschuldigt. Ein deutsches Kommando
stürmte das Haus und zerrte zwei jüdische Greise auf die Straße. Sie wurden
sofort erschossen.
Für die Deutschen standen die Schuldigen fest: DIE JUDEN. Am
folgenden Tag ließ der Gebietskommissar der Stadt Wilna,
Hingst,
öffentlich verbreiten, die Verantwortung für den Anschlag trage die gesamte
jüdische Gemeinschaft. Vom 1. bis zum 3. September wurden alle Juden, die in
dem für das Ghetto vorgesehene Gebiet lebten und in dem sich die große
Provokation ereignet hatte, verschleppt und ermordet – der Stadtteil war
somit geräumt und frei für die Vertreibung der restlichen jüdischen
Bevölkerung.
DOKUMENT BEKANNTMACHUNG HINGST
01-09-1941
Quelle: Kaczerginski: Churbn Wilne, S.
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hagalil.com 14-02-2003 |