Eine Ausstellung und die
Geschichte der Exponate …
Das Jüdische Museum Frankfurt am Main
zeigte von Oktober bis Dezember 2002 die Ausstellung "Shtarker
fun Ayzen", bisher in Deutschland unveröffentlichte
Dokumente aus dem Wilnaer
Ghetto …
Die Ausstellung
"Shtarker fun Ayzen" zeigte den Besuchern einen kleinen Ausschnitt des
Überlebenskampfes der Juden im Ghetto von Wilna (vgl.
juden-in-europa.de/baltikum/wilnaer-ghetto.htm ). Die
zentralen Exponate – Theaterplakate und Ankündigungen diverser
Veranstaltungen – wurden ergänzt durch eine die Lebensbedingungen des
Ghettos erläuternde Dokumentation. Sie verdeutlichte die engen
Spielräume, die den um ihre Würde und ihr Überleben ringenden Menschen
gegenüber dem deutschen Terror und der Vernichtungspolitik zur Verfügung
standen. So weit eine sehr gelungene und wichtige Präsentation.
Die Geschichte der Plakate
Die Deutschen liquidierten
das Wilnaer Ghetto im September 1943. Im Mai 1944 befreiten Mitglieder
der Untergrundbewegung des Ghettos, die in die Wälder zu den Partisanen
geflüchtet waren, gemeinsam mit der Roten Armee die Stadt. Unter
Federführung von Avrom Sutzkewer und Shmerke Kaczerginski begannen sie,
die in den Malinen (jidd.: Verstecke) des Ghettos verborgenen Zeugnisse
zu sammeln. Neben Dokumenten aus dem Ghetto befanden sich in den Malinen
auch Kulturgüter jüdischer Geschichte, die Zwangsarbeiter aus dem
Beutelager des Arbeitsstabs Rosenberg in das Ghetto geschmuggelt hatten.
Im Hinterhaus der ehemaligen Ghettobibliothek, in dem das
Ghettogefängnis untergebracht gewesen war, entstand ein jüdisches
Museum, in dem die geretteten Kulturgüter und Dokumente ausgestellt und
die Vernichtung und der Überlebenskampf dokumentiert wurden.
Die Existenz des Museums war nur von kurzer Dauer: Bereits 1949 wurde es
im Rahmen der stalinschen Kampagne gegen Kosmopolitismus und Zionismus
geschlossen. Einige Exponate wurde vernichtet, ein anderer Teil in
Kellern eingelagert. Die beiden Initiatoren und andere MitarbeiterInnen
des Museums verließen angesichts der repressiven Situation mit einem
weiteren Teil der Dokumente das Land: Avrom Sutzkewer ging nach Israel,
Shmerke Kaczerginski nach Argentinien. Beide veröffentlichten
Erinnerungen, Gedichte und Lieder aus der Zeit der Vernichtung und aus
dem Leben im Jerusalem Litauens - Jerushaleyim deLite.
In Vilnius jedoch war für das jüdische Erbe und das jüdische
Alltagsleben eine langjährige Eiszeit angebrochen.
Die jüngere Geschichte
Fast vierzig Jahre später,
im Klima der Perestroika begann das Eis zu schmelzen. Eine neue
"Gesellschaft für jüdische Kultur" wurde geschaffen, 1989 das jüdische
Museum als "Vilna Gaon Jewish State Museum" wieder eröffnet. Mit der
Öffnung der sowjetischen Archive, waren die eingelagerten Dokumente
wieder zugänglich geworden. Die litauische Regierung erklärte zwar 1991
in einer Resolution, dass der jüdische Besitz an das jüdische Museum in
Vilnius zurückgegeben werde, bis heute jedoch befinden sich z.B. nur 16
von 230 Originalplakaten aus dem Ghetto im "Vilna Gaon Jewish State
Museum".
Alle Bemühungen, die
Herausgabe der jüdischen Kulturgüter zu erreichen, blieben ohne
Resonanz. In der Frankfurter Ausstellung verwies leider nur der kleine
Stempel "Jüdisches Museum", den dessen Betreiber in der Zeit von 1945
bis 1949 auf die Ränder einiger Plakate gedrückt hatten, auf diese
Geschichte.
Ein Eingehen auf die Auseinandersetzung um die Exponate und die
derzeitige Situation des jüdischen Museums in Vilnius und seiner
Betreiber hätte die Ausstellung nicht nur bereichert, sondern auch deren
Position beim Kampf um die Herausgabe der Plakate gestärkt und ein
Zeichen der Solidarität gesetzt.
Wer, wenn nicht das jüdische Museum in Vilnius, ist der legitime Erbe
der Kulturgüter aus dem Ghetto?
Gudrun Schroeter
hagalil.com
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30-12-2002 |